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Statistik Totenschein

Hier ist sie wieder!: Diese Ungerechtigkeit! Sie kann sich damit nicht anfreunden. Dabei wollte sie nur Gutes tun. Es begann schon vor vielen Jahren. Ihre Berufswahl war auf die Medizin gefallen. Helfen hatte sie wollen. Das gelang nur bedingt, weil sie durch Korruption «abgesägt» wurde. Weisse Männer mittleren Alters, die zwar nicht mit ihrem Intellekt mithalten konnten, dahingegen eben aufgrund klar hervorstechender Kriterien und des daraus resultierenden Netzwerkes privilegiert waren, hatten sie buchstäblich überrollt. Sie raffte sich aber auf, strebte eine neue Karriere an, wurde bescheidener.

Nun ist sie mit den Leichnamen betraut. Es ist dabei aber immer der lebendige Mensch zu bedenken. Den Toten ist ihr Zustand schliesslich scheissegal. Jetzt geht es einmal mehr wieder um die Unverstorbenen. Oder doch nicht? Es beschäftigt sie schon seit Monaten. Sie hat die Vorschriften einzuhalten, will aber gleichzeitig moralisch handeln.

Es klopft. Wer ist das? Die Arbeit mit den Toten war sonst so friedlich. In letzter Zeit ist es aber eher laut geworden um sie und ihren Arbeitsplatz. Sollte sie innehalten, still sein und hoffen, dass der Eindringling von selbst verschwinden würde? Ja, das ist eine blendende Idee. Sie macht sich an die Arbeit und vergisst flink, dass jemand herein wollte. Es weiten sich aber ihre Augen. Die Kinnlade fällt hinunter, das Herz schlägt kurz schneller, sie erschreckt.

Schon wieder dieses Pochen und dann nach dem dritten Mal die gedämpfte Stimme durch die feste Holztür:

«Ich weiss, dass sie hier sind. Ihr Auto ist am Parkplatz. In der Cafeteria hat man mir ihre Anwesenheit bestätigt.»

«Verflixt.» Schiesst es ihr durch den Kopf. Wie kommt sie da wieder raus. Was wollen die denn noch wissen? Ist nicht längst alles gesagt?

«Kommen sie schon. Meine Kollegin weiss auch, dass ich hier bin. Ich werde ihnen schon nichts tun.»

Resigniert schreitet sie auf den Eingang ihres grossen, steril riechenden Arbeitsplatzes zu. Sie öffnet die Tür einen Spalt und ein breites Lächeln strahlt ihr entgegen.

«Kommen sie herein. Ich habe sie wohl nicht gehört, war mit meinen neuen Kopfhörern konzentriert bei der Arbeit.»

Die Eindringende zieht die linksseitige Augenbraue nach oben, der linke Mundwinkel ändert die Position, um in Richtung Ohr zu schauen:

«Ich verstehe.»

Die Herrin der pathologischen Abteilung ist versucht, die voyeuristische Person schnell abzuwimmeln:

«Habe ich ihnen denn nicht schon alle Informationen gegeben?»

«Viele davon, ja. Aber da sie ja so viel wissen, werden es wohl niemals alle sein.»

Von der schleimigen Schmeichelei wenig beeindruckt schaut sie die Besucherin müde an:

«Schiessen sie los.»

«Nun, sie sagen also, dass ausschliesslich sie für das Ausstellen der Totenscheine verantwortlich sind.»

«Das ist richtig.»

«Sie sagen aber auch, dass die Leute nicht gestorben wären, hätten sie nicht unterschiedliche Vorerkrankungen gehabt.»

«Das ist auch richtig.»

«Wenn ich mir aber die Statistiken ansehe, muss ich feststellen, dass alle Leute die gleiche Todesursache haben.»

«Sehen sie genau hin. Die Leute sind so alt, dass sich bisher niemand für eine genauere Ursache interessiert hat.»

«Nun interessieren sich aber die Leute für die Todesursache.»

«Die Menschen sind zwischen 85 und 90 Jahre alt gewesen.»

«Schon, aber sie haben alle die gleiche Todesursache.»

«Auch richtig. Die einzigen Personen unter 80, hatten aber HIV, eine andere Hepatitis C, die übernächste litt an Krebs und so weiter.»

«Das mag ja auch sein, aber den Rest gab ihnen der Virus, oder?»

«Naja.»

«Oder nicht?»

«Nun.»

«Was soll das heissen? Hätten sie nicht etwa länger gelebt?»

«Vielleicht schon den einen, oder anderen Tag.»

«Na eben.»

«Aber andere Menschen müssen jetzt viele Tage ihres Lebens aufgeben. Sie leben in Angst und Schrecken. Sie leben oft gar nicht, verkriechen sich zu Hause.»

«Es gibt schlimmeres.»

«Als lebendig begraben zu sein? Meine Grossmutter ist 94 Jahre alt. Sie hat keinen Bock mehr auf das Leben. Ihre Tochter ist tot, sie hat von der Gicht Schmerzen und meine Cousins schotten sie von der Aussenwelt ab, damit sie sich nicht infiziert. Das ist ja Folter! Die Leute sind altersschwach. Ohne den Virus müssten sie leiden. Mit ihm auch, aber kürzer. Sie sind oft einfach nur zu schwach, diesen durchzustehen.»

«Also könnte auf dem Totenschein auch stehen: Altersschwäche als Todesursache?»

«Nun, gesetzlich ist es so geregelt, dass sozusagen der letzte Todesstoss als Todesursache gilt. Wenn sie einen 115 Jahre alten, blinden, an Alzheimer leidenden, von Schmerzen verzerrten und verbitterten Mann eine Kugel durch den Kopf jagen, ist die Todesursache immer noch Mord.»


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