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Frauenwahlrecht

Mann und Weib Titelbild
1972 wurde auf schweizer Bundesebene das Frauenstimmrecht eingeführt; letzter Kanton Appenzell-Innerrohden: 1990
Telephonistinnen. Aus "Mann und Weib"
Telephonistinnen. Aus "Mann und Weib"
Ca. 1910. Aus: "Mann und Weib"
Ca. 1910. Aus: "Mann und Weib"

Ca. 1910. Aus: "Mann und Weib"
Ca. 1910. Aus: "Mann und Weib"

 

Seit über einer halben Stunde stehe ich vor der Haustüre. Die Eiszapfen tropfen vom Dach. Gott sei Dank regnet es nicht. Die Nässe hätte ich jedoch nicht gemerkt. Zu sehr bin ich mit Angst und Zweifel beschäftigt. Ein Hund in der Nachbarschaft knurrt und bellt. Der Geruch von verbranntem Hausrat hängt in der Luft. Die Dämmerung hält Einzug. Mein Geist ist getrieben von unzähligen Horrorszenarien. Nichts ist mehr, wie es vor einer Woche war. Die ganze Welt scheint sich verdreht zu haben. Vor 8 Tagen war der Alltag in seinen geordneten Bahnen. Die Rollen waren geklärt, alles war aufgeteilt. Inzwischen stehe ich da und habe null Ahnung, ob zu Hause klopfen eine gute Idee ist. Ich weiss nicht, wie es meinem Kind geht. Es ist doch so hilflos. Klar, es benötigt keine Windeln mehr und kann draussen herumlaufen, aber es ist erforderlich, es noch anzuziehen, braucht Liebe. Bekam es genug zu essen? Ich gehe da hinein. Ich MUSS da rein. Da ist mein Sohn drin, das ist mein Zuhause.

Dass ich unvorhergesehen im Gefängnis landete, worüber ich meinem Junior nicht Bescheid geben konnte, war weder geplant, noch hatte ich irgendetwas Illegales dazu beigetragen. Ich habe nichts gemacht, gar nichts. Ich verharrte da. In der Menge. Mit vielen anderen. Wir haben zugehört. Gehört, dass das Gesetz, das uns Damen ein wenig Mitsprache gewähren sollte, abgelehnt wurde. Angeblich nach genauer Prüfung. Ich war entsetzt. Die Welt stand still. Konnte es wahr sein, dass wir keine Menschen waren? Es hatte sich vielversprechend angehört. Die Frau des Politikers wird in der Sache von ihm unterstützt! Ausser einem überraschten Blick habe ich nichts verbrochen. Eine Menge rief, die Hände in Richtung oben werfend. Alles ging Schlag auf Schlag und ein Schlag nach dem nächsten begann auf die Frauen niederzuprasseln. Dumpfe Geräusche von den Knüppeln; ein stechender Schmerz vom Absatz des Schuhs einer anderen in meinem unteren, Rücken, rechts der Wirbelsäule; der Geruch des Bodens, auf dem sich die Pferdeexkremente mit Öl der neuen Automobile vermischte. Die Polizisten verzogen ihre Gesichter zu machthungrigen Fratzen und die Frequenz ihrer Hiebe wurde immer höher und heftiger. In der Frauenmenge gab es kaum ein Entkommen. Ich wurde niedergerissen, es war schwer, aufzustehen, da packte mich einer der «Ordnungshüter» und zerrte mich am Oberarm in einen Polizeiwagen, der 2 Menschenreihen neben uns geparkt war. Einige meiner Kolleginnen waren dabei.

Mit ihnen hatte alles ein paar weitere Tage zuvor begonnen: Sie hatten Scheiben mit Steinen eingeschlagen, um sich Gehör zu verschaffen, sie waren freundlich zu mir gewesen, hatten mir zeigen wollen, dass es an der Zeit sei, die gleichen Rechte zu bekommen wie die Männer. Ich war zurückhaltend gewesen. Das Thema war neu für mich gewesen. Ich hatte meinen Chef verteidigt, hatte zu Vorsicht aufgerufen, gedachte nicht mit einer Formation unbeliebter, rebellischer Weiber assoziiert zu werden. Eine Gruppe, die als dämonisch hingestellt worden war. Blut würden sie trinken, Neugeborene opfern. Dennoch war ich aufmerksamer geworden, denn das konnte nicht sein; hatte gesehen, wie mein, nach ungesundem Lebensstil stinkender Chef eine 14jährige Tochter meiner Kollegin vergewaltigte, wobei er sich nicht mal geschämt hatte, als er bemerkte, dass ich ihn gesehen hatte; hatte mitbekommen, wie er uns alle über Jahrzehnte ausgenutzt hatte: Schuften mit Chemikalien, die uns früh sterben lassen. Tritte in den Hintern. Zusätzliches Aufbrummen von Arbeiten direkt nach dem 14-stündigen Dienst.

Auch an diesem Tag hatte ich nur zuhören wollen, als ich es plötzlich gewesen war, die im Parlament darüber gesprochen hatte, dass wir ein Drittel mehr wie die Männer arbeiten würden, aber ein Drittel weniger bezahlt bekämen. Lediglich der Sachverhalt, dass ich es ausgesprochen hatte, hatte der ganzen Sache eine grössere Bedeutung gegeben. Als wäre sie erst durch die Sprache aufgetaucht, die Tatsache, dass etwas nicht stimmte.

Mein Mann hatte dafür ein taubes Ohr gehabt. Meine Kollegin war mit einem blauem Auge und offenen Wunden im Gesicht zur Arbeit erschienen, als sie der Rede einer bekannten Gnädigen gefolgt war, die das Wahlrecht für Frauen fordert.

Möglicherweise ist er ja jetzt anders. Ich habe Gänsehaut. Vielleicht hat er es verstanden. Die Gasse ist verlassen. Niemand traut sich so spät mehr auf die Strasse. Ich höre das Tropfen durch die undichte Wasserrinne, in der sich Regenwasser gesammelt hatte. Der beissende Wind sorgt für ein pfeifendes Geräusch in meinen Ohren. In diesem Pfeifen scheine ich ein Flüstern zu vernehmen. Oder ist da jemand? Es riecht nach modrigem Holz. Der Schimmelgeruch kriecht aus den Kellern aufwärts. Die Brise aus dem Norden sickert durch die, in der Zelle feucht gewordenen Kleider. Auf der grauen Fassade zeichnen sich durch alte Wasserflecken hässliche Fratzen in das Gestein.

Ich klopfe. Die Türe geht mit einem Ruck auf und er zerrt mich hinein, blickt dabei 3 Mal verstohlen einmal nach links, dann nach rechts. Eine Zigarette hat er in der Hand. Die ganze Wohnung ist vernebelt. Er sieht furchterregend aus. Wo ist mein Sohn?

«Wo ist George?» Frage ich gleich zuerst.

Er reagiert nicht, sondern beginnt mit erhobener Hand erst zu schimpfen:

«Die ganze Strasse zerreisst sich das Maul über uns. Wo bist du gewesen?»

Wenn er jetzt zuschlägt, landet seine steife Handkante auf meiner linken Schulter und könnte diese wie ein Stück Anfeuerholz zerschmettern. Er ist so aggressiv, dass ich unsicher werde:

«Es tut mir leid.»

Meine Stimme zittert.

«Es tut mir leid?! Du bist eine Schande. Das bist du. Eine Schande!»

Was hat er mit meinem Jungen gemacht?

«Wo ist George?»

«Bist du jetzt auch eine von denen?»

Ich stehe dicht vor ihm und sein Blick ist gesenkt. Der Alkoholgestankt dringt in meine Nase. Ist er zum Monster geworden? Was wird er mit mir machen? Ich ziehe mich zurück:

«Nein.»

«Ich kann dich gar nicht ansehen.»

Ich will an ihm vorbei zum Bett unseres Kindes. Er stellt sich mir ruckartig in den Weg. Ein Blitzen huscht aus seinen Augen.

Ich sehe den Schürhaken im Augenwinkel. Er ist für ihn griffbereit. Ein kurzer, gezielter, Schlag könnte mir mit Hilfe der Fliehkraft den Schädel spalten, meine Hirnwindungen wären als zähflüssige Masse über dem Holzboden verteilt.

«Ich bin keine von denen. Ich verspreche es. Ich mache das nie wieder. Wo ist George? GEORGE? WO BIST DU?»

Da kommt mein Kleiner hinter dem Vorhang hervor auf mich zu. Dessen Vater stellt sich wieder in den Weg. Er sieht mich, dann kurz den Jungen an:

«Geh ins Bett zurück. GEH SOFORT INS BETT!»

Scheu ist der Bub, er kommt zu mir. Flott gebe ich ihm einen Kuss, bevor er mir wieder entrissen wird. Am Oberarm wird er gepackt, welcher sich rückwärts verdreht, wird nach oben gehoben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht dreht sich George hilfesuchend zu mir um. Ich bin angewurzelt. Wie eingefroren stehe ich da.

Ein Gespräch gibt es nicht mehr. Ich bin diesmal noch davongekommen. Ohne blauem Auge. Erst im Bett frage ich ihn, was wäre, wenn wir eine Tochter hätten. Selbstverständlich, so meinte er, würde sie dasselbe Leben führen wie ich. Ein Albtraum: In der Fabrik auf die Welt kommen, dort als spätestens 7-jährige voll im Einsatz, gleich nach der Geschlechtsreife das Opfer von Sexualverbrechen, keine Perspektive.

Als er wie ein Teufel schnarcht und ein Geräusch im kalten, grauen Raum verbreitet, das an rasselnde Riesenratten erinnert und das Tippeln der richtigen kleinen Kakerlaken unter dem Bett übertönt, nehme ich das Buch* meiner Schwiegermutter hervor. Teuer muss es gewesen sein mit seinen Goldrändern und vielen Illustrationen und Photographien. Ich lese in dem 2. Kapitel mit dem Titel «Das Weib als Hausfrau». Hier heisst es, dass meine Rolle zu Hause ist, dass ich dem Manne zu dienen hätte. Es steht nichts davon, dass ich zusätzliche Stunden schuften müsste, um dann das ganze Geld am Ende der Woche ihm zu geben. Ich liebe unseren Sohn, aber ich bin nicht mehr die Gleiche. Die Misshandlungen im Gefängnis, die Gleichgültigkeit meines Mannes, der sich dem Buch nach um mich zu kümmern hätte.

Bevor ich einschlafe, nehme ich einen Schatten vorm Fenster wahr. Ein Umriss eines Kerls: Hut, Umhang. Ich träume von der Geheimpolizei.


… einen Schluss? Gibt es denn ein Ende? Wo ist die Spitze festzusetzen? Wer legt ihn fest, den Stopp? Welches Finale ist erstrebenswert? Wann wird es eins geben?

 

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"Hausfrau und Dienerin" aus "Mann und Weib"
"Hausfrau und Dienerin" aus "Mann und Weib"
aus "Mann und Weib"
aus "Mann und Weib"

Quelle "Mann und Weib"
Quelle "Mann und Weib"
"Das Weib als Hausfrau" aus "Mann und Weib"
"Das Weib als Hausfrau" aus "Mann und Weib"

 

Inspiriert vom Film: «Suffragette. Taten statt Worte.» mir Carey Mulligan, Helena Bonham Carter, Brendan Gleeson, Anne-Marie Duff und Meryl Streep. Concorde. 2015.

*Holzmann R. Prof. Dr., Weiss Jul. Prov.-Doz. Dr., Mann und Weib. Ihre Beziehungen zueinander und zum Kulturleben der Gegenwart. Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Stuttgart, Berlin, Leipzig, 1910 (?).

 

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